Radfahren auf dem MEINRADWEG als Trauerarbeit? Hedwig Pohl hat es versucht und ist den Radpilgerweg auf den Spuren des heiligen Meinrad in Erinnerung an ihren verstorbenen Vater geradelt. Hier können Sie einen berührenden Pilgerbericht nachlesen.
Mein Vater ist am 09.05.2023 verstorben, am 06.08.2023 „starb“ ihm meine Mutter hinterher. Im Schreibtisch meines Vaters fand sich ein Ordner mit der Beschreibung des MeinradWeges. Und so beschloss ich, den MeinradWeg zu pilgern und zum Todestag meines Vaters in Einsiedeln bei seinem Namenspatron zu sein. Wann immer mich die Trauer meiner Eltern wegreißen wollte, beschäftigte ich mich mit der Vorbereitung der Pilgerfahrt. So wurde mir die Vorbereitung zur Stütze und zum Halt in diesem ersten Trauerjahr. Da meine Eltern manche Entbehrung in Kauf nahmen, um mir meine musikalische Ausbildung zu ermöglichen, befand sich in meiner Ausrüstung nicht nur „Allwetter-Kleidung“, Flickzeug, Luftpumpe und Sonnencreme, sondern auch meine Violine und mehrere Fantasien von G. Ph. Telemann.
30.04.2024
Ich mache mich auf den Weg! Mit der Bahn geht es nach Rottenburg am Neckar. In der Sülchenkirche beginne ich meine Wallfahrt mit einem Gebet und mit einem musikalischen Gotteslob. Anschließend geht‘s zum Dom. Bei herrlichem Frühlingswetter fahre ich nach Hechingen, wo ich glücklich und auch müde ankomme. In St. Luzen spiele ich für meine Eltern Geige und anschließend lasse ich den Tag im Bildungshaus St. Luzen ausklingen.
01.05.2024
Heute führt mich mein Weg zuerst nach Balingen. Nach einem Umweg wegen einer Baustelle erreiche ich nach 2,5 Stunden die Heilig-Geist-Kirche in Balingen. Die Architektur dieser Kirche ist eine faszinierende Symbiose der alten Kirche und einem neuen, modernen Erweiterungsbau, der die alte Kirche seitlich öffnet. Nach einer kurzen Rast und einer Stippvisite an der Evangelischen Stadtkirche führt mich mein Weg vom offiziellen MeinradWeg fort, hin zum persönlichen MeinradWeg meines Vaters. Es geht zum Palmbühl nach Schömberg. An diesem Wallfahrts-Kirchlein findet alljährlich am 1. Mai eine feierliche Marienandacht statt. Vorab spiele ich die Telemann-Fantasien. Ich begegne sogar überraschend meiner Tante, eine Schwester meines Vaters, mit ihrem Mann. Gemeinsam gedenken wir meiner Eltern. Anschließend fahre ich zum Geburtshaus meines Vaters und kehre in der Kirche seines Heimatortes Wellendingen ein. Der Chorraum der Kirche wird vom auferstandenen Christus dominiert, der segnend auf dem Erdball steht. Zu Seiner rechten tragen zwei Engel das überwundene Kreuz, zu seiner linken sind zwei Engel, die eine Säule tragen als Symbol des wiedererrichteten Tempels. Schon als Kind empfand ich diese Kirche als besonderen Kraftort. Von hier sind es nur noch 15 Kilometer bis Spaichingen am Fuße des Dreifaltigkeitsberges, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Bei meiner Schwester finde ich heute mein Etappen-Quartier.
02.05.2024
Nach der vergangenen Etappe mit den vielen Erinnerungen an meine Kindheit und an meine Eltern fühle ich mich emotional weit gefordert. Ich zweifle, ob ich die Pilgerfahrt überhaupt fortsetzen kann. Meine Schwester bestärkt mich, und so starte ich in diese Etappe, obwohl ich bleiben möchte. Mein Weg geht über Gosheim, Wehingen und Egesheim nach Nusplingen. Von hier aus bin ich wieder auf dem eigentlichen MeinradWeg. Die Fahrt nach Nusplingen führt mich an ein großes, munter klapperndes Mühlrad heran, das mir einen Liedvers wachruft, der mein vergangenes Jahr mit all meinem Verlust und der Trauer wie in einem Brennglas auf den Punkt bringt.
„Hör ich das Mühlrad gehen,
Ich weiß nicht, was ich will-
Ich möcht‘ am liebsten sterben,
dann wär‘s auf einmal still.“
Nicht in der Trauer versinken! Dazu hilft mir meine Pilgerfahrt, denn mutig stemme ich mich gegen mein Weh und gegen die Steigung, die mich nach Irndorf führt. Von dort geht es nach Beuron hinunter. Innerlich erschöpft genieße ich die Stille der Abtei und lasse an diesem Tag mein Instrument schweigen.
03.05.2024
Nach einer guten Nachtruhe und ganz auf mich zurückgeworfen steige ich auf mein Rad. Nochmals überwältigt mich die Trauer, als ich an Ausflugszielen meiner Kindheit im oberen Donautal vorbeifahre. Doch ich lasse mein Etappenziel nicht aus den Augen und setze die Fahrt fort. Die Steigung nach Neuhausen ob Eck hilft erneut, mich zu stabilisieren. Nach der Radweg-Kirche in Liptingen fahre ich, wie beschrieben, auf der Straße in Richtung Eigeltingen. Plötzlich geht rechts ein ausgewiesener Radweg nach Eigeltingen ab. Obwohl er in der Tourenbeschreibung nicht vorkommt, wähle ich diesen. Er führt mich bergab, wird zu einem Forstweg und bald auch sehr schlammig. Um umzukehren ist es jetzt zu spät, denn bergauf durch den Morast benötigte ich Gummistiefel. Ich hoffe auf Besserung. An der nächsten Weggabelung ist die Radwegbeschilderung verschwunden. Es gibt nur noch einen steil nach oben führenden Wanderweg. Nach einer kurzen Rast nehme ich wohl oder übel den Wanderweg. Nach etwa 400 Metern werde ich nach einer Biegung komplett ausgebremst. Etliche entwurzelte Bäume liegen quer über den Weg. Fassungslos und verzweifelt stehe ich im Wald und weiß nicht mehr weiter. Doch da habe ich das Gefühl, den Rat meines Vaters in mir zu spüren: „Heul‘ nicht, spar‘ die Kraft und mach, was jetzt nötig ist!“ Und so nehme ich das Gepäck vom Rad und schleppe es über und unter den Bäumen weiter nach vorn. Anschließend bugsiere ich das Fahrrad über jedes dieser Hindernisse. Ich bin eine ganze Stunde damit zugange. Und doch kann ich endlich mein Rad wieder beladen und weiterwandern. Nach einem Kilometer mündet der Wanderweg auf einen befahrbaren Forstweg, und ich gelange auf diesem nach Honstetten. Ohne weitere Abwege gelange ich nach Eigeltingen und um 16:00 Uhr erreiche ich St. Meinrad in Radolfzell. Hier mache ich eine ausgiebige Rast und nehme meine Geige zur Hand. Ich spiele meinen Dank in die Kirche hinein. So schwierig der Weg auch war, die innere Schwere hat er vertrieben. Um 18:00 Uhr erreiche ich Hegne, mein Ziel der Etappe. Ich checke im Hotel St. Elisabeth ein, das ich für zwei Nächte gebucht habe. Für den nächsten Tag habe ich die Erkundung der Insel Reichenau und der Altstadt von Konstanz bereits im Vorfeld eingeplant.
04.05.2024
Mein Streifzug über die Insel Reichenau und durch die Altstadt von Konstanz sind sehr kurz. Ich besuche die Radweg-Kirchen und ich entfliehe den Touristenströmen… Stattdessen habe ich am späten Nachmittag ein so heilsames Gespräch mit einer Schwester des Klosters Hegne, das mir Mut und Kraft für die Weiterreise am nächsten Tag schenkt.
05.05.2024
Ich habe Respekt vor der ersten Etappe in der Schweiz, und ich bin zuversichtlich, dass es kaum so abenteuerlich werden wird wie die Etappe Beuron – Hegne. Der Verlauf ist gut ausgeschildert und ich finde den Weg. Auf der Strecke nach Weinfelden beginnt es zu regnen. Und plötzlich wird mir bewusst, dass das Lied mit dem Mühlrad eine weitere Strophe hat:
„Ich möcht‘ als Spielmann reisen,
Wohl in die Welt hinaus,
Und spielen meine Weisen
Und zieh‘n von Haus zu Haus.“
Und ich spüre meinen Geigenkasten auf dem Rücken und eine große Freude erwacht in mir. Ich reise ja auf dem MeinradWeg als Spielmann/-frau. Ich vertausche die Reihenfolge der Strophen und singe im strömenden Regen diese lebensbejahende Strophe immer und immer wieder. In Weinfelden halte ich Mittagsrast im Regen. In Lommis scheint bereits wieder die Sonne. Und als ich gegen 17:00 Uhr durch Fischingen fahre und die Klosterkirche zu Gesicht bekomme, laufen wieder die Tränen – aber es sind Tränen der Dankbarkeit. So viel habe ich heute in mir geschenkt bekommen. Ich beende die Etappe mit meinem musikalischen Gotteslob in der St. Idda Kapelle.
06.05.2024
Wieder starte ich mit viel Respekt vor der Hulftegg, über die mich der MeinradWeg führt. Ich beginne den Aufstieg langsam und in stetem Rhythmus. Ich fahre wie der Straßenfeger von Momo. Ich schaue nicht auf das Ende der Straße, sondern atme und fege bzw. atme und trete in die Pedale. Ich blicke nur auf den Weg, nicht auf das Ziel. Und so erreiche ich tatsächlich die Passhöhe, ohne mich zu verausgaben. Ich freue mich über die Leichtigkeit, mit der mir der Aufstieg gelungen ist.
Dann geht‘s geschwind bergab. In Fischenthal fällt mein Blick unvermittelt nach rechts, und ich sehe das Schild mit dem radelnden Meinrad an einer Mauer. Die Radwegkirche kommt so unscheinbar daher, ich hätte sie beinahe verpasst. Es geht fast nur bergab bis Schmerikon. Am Ufer des Sees muss ich mir die Regenhaut überziehen. Das Wetter ist nass und kalt und garstig bläst der Wind und peitscht den See auf. Ich fahre trotzdem guter Dinge weiter, das Regenwetter erinnert mich an meine Entdeckung des reisenden Spielmanns. Wieder singe ich, diesmal etwas leiser, diese wunderschöne und lebensbejahende Strophe, die meinen Kummer der anderen Strophe heilt. Die kleine St. Meinrad-Kapelle hinter der Viehweide in Oberbollingen steht für mich offen, und ich darf darin verweilen. Ich bin weit und breit die Einzige, die bei diesem Wetter mit dem Velo unterwegs ist. Und ich bin tatsächlich auf glücklicher Fahrt. Auch in Wurmsbach mache ich kurz Halt, aber mein Etappenziel ist die Pilgerherberge in Rapperswil. Sehr herzlich ist dort der Empfang. Mein musikalisches Dankeschön erklingt an diesem Abend nicht in einer Kirche, sondern in der Pilgerherberge, die ich mit drei Jakobspilgern für diese Nacht teile.
07.05.2024
Früher als sonst breche ich auf. Auf dem Steg gehe ich zu Fuß mit meinem Rad über den See. Die Wolken hängen so tief, dass ich kaum etwas um mich herum sehe. Der Etzel versteckt sich, damit ich guten Mutes bleibe. Ich kann aber auch die Kirche in Pfäffikon nicht sehen, auch sie ist im Wolkenmeer versteckt. Da hilft sie mir mit lautem Glockenklang. Ich folge dem Geläut und darf mit einer Messe in die letzte Etappe starten. Nach der Messe fahre ich auf der Etzelstrasse, aber mein Rhythmus hält der Steigung nicht stand. Ich wünsche mir einen E-Akku, muss aber mit meinen zwei „Bio-Akkus“ vorliebnehmen. Noch vor dem Ortsausgang muss ich mein Rad schieben. Ich beschließe, nach jeweils 15 Minuten eine Trinkpause einzulegen. Es ist so steil und mein Rad mit dem Gepäck ist so schwer, dass ich nur langsam vorankomme. Ich lasse Luegeten hinter mir. Ein Bauer fährt mit dem Traktor an mir vorbei, kommt nach einiger Zeit wieder zurück und bald schon überholt er mich wieder. Ich arbeite mich viertelstündlich voran. Als der Bauer abermals zurückkommt hält er an. Wir haben ein schönes Gespräch und er ermutigt mich. Es seien nur noch drei Kilometer bis hinauf. Ich ändere meine Pausenparameter von 15 Minuten auf 500 Meter. Ich muss mich zwingen, die 500 Meter bis zur nächsten Pause auch einzuhalten. Endlich trete ich aus dem Wald heraus und kann St. Meinrad auf dem Pass thronen sehen. In der Kapelle halte ich inne. Dann zeihe ich mir wärmere Kleidung über und mache mich auf die letzten Kilometer hin nach Einsiedeln. Angekommen kann ich es kaum fassen, dass ich diese Reise tatsächlich mit Muskelkraft bewältigt habe. Ich bin so dankbar. Meine Pilgerfahrt gipfelt in einem zweitägigen Aufenthalt im Kloster und einer Messe für meine Eltern am Todestag meines Vaters, der in diesem Jahr Christi Himmelfahrt ist. Meine Schwester, mein Mann und meine Tochter sind zur Messe nach Einsiedeln gekommen und mit Ihnen fahre ich zurück.
Ich möchte jenen danken, die diesen Pilgerweg konzipiert und ins Leben gerufen haben. Ich danke für alle Begegnungen auf dem Weg, die diese Reise so kostbar gemacht haben. Ich danke für die Gastfreundschaft und den Respekt, den ich in den Klöstern und Pilgerunterkünften erfahren durfte. Der MeinradWeg führte mich auf den Lebensstationen des heiligen Meginrat und meines Vaters Meinrad W. von Rottenburg über Wellendingen bis Einsiedeln und aus der Schwere meiner Trauer hinein in mein Leben zurück. Hierfür ein tiefes, herzliches „Vergelt‘s Gott“.